Am Dienstag, den 06.02.2018 findet das größte Fußballspiel des Jahres statt. Immerhin treffen die beiden besten Clubs im deutschen Profifußball aufeinander. Niemand hat so viele Spiele gewonnen (16:17), niemand so viele Punkte geholt (51:53), niemand so viele Tore (55:51) erzielt, wie die beiden Kontrahenten. Alle Statistiken scheinen ein Duell auf Augenhöhe auszuweisen, das vollständige Bild ergibt sich aber erst auf den zweiten Blick. Schließlich hat der SC Paderborn 07 schon zwei Spiele mehr bestritten.
Welcher Ort wäre besser geeignet für ein solches Treffen der Giganten als die legendäre, geschichtsträchtige …Benteler-Arena? Vermutlich so einige.
Natürlich handelt es sich beim anstehenden Pokal-Viertelfinale nicht um ein ausgeglichenes Spiel. Der deutsche Rekordmeister trifft auf einen Club, der nur eine Bundesligasaison vorzuweisen hat. Der viertreichste Fußballverein der Welt auf einen, der nur knapp vor der Insolvenz gerettet werden konnte. Und ja, der Tabellenführer und Herbstmeister der ersten auf den Tabellenführer und Herbstmeister der dritten Liga.
Doch Ligazugehörigkeit und individuelle Klasse können täuschen. In den drei bisherigen DFB-Pokal-Runden traf der SCP auf durchaus ambitionierte Zweitligisten. Paderborn war in jedem dieser Spiele überlegen, dominierte in Phasen total. Jeder dieser Gegner unterschätzte den vor der Saison sportlich abgestiegenen Drittligisten (Danke nach München), keiner fand Mittel, weder defensiv, noch offensiv.
Auch beim FC Bayern scheint man sich noch nicht mit dem Pokalgegner beschäftigt zu haben. So prophezeite Torwart Sven Ulreich einen Gegner, der sich „tief hinten rein [stellt] und auf Konter [lauert]“. Da dies kaum weiter von der Realität entfernt sein könnte, möchte ich der Scoutingabteilung auf die Sprünge helfen.
Was zeichnet den SC Paderborn aus? Wie könnte sich das Spiel entwickeln? Wer wird das Spiel gewinnen (die Antwort wird sie überraschen)?
Individuelle Qualität
Bevor man zur Beurteilung der taktischen Mittel beider Mannschaften übergeht, muss eine Sache geklärt werden. Der FC Bayern ist individuell, auf jeder Position, in jedem Belang überlegen.
Die Qualität sorgt bereits im Ligaalltag dafür, dass falsche Entscheidungen kompensiert, Tore aus unmöglichen Lagen erzielt oder Konter in krasser Unterzahl verteidigt werden können.
Entsprechend werden sich taktische Schwächen weniger stark auswirken, Stärken dagegen potenzieren. Auch bei perfekter Umsetzung des eigenen Matchplans wird Paderborn Glück brauchen.
Pressing, Pressing, Pressing
Der SCP hat sich unter Trainer Steffen Baumgart zu einer hochgradig modernen Mannschaft gemausert. Das vielleicht beeindruckendste Element der Paderborner Spielweise ist das Pressing. Während sich die meisten Gegner in der dritten Liga in ein abwartendes, tiefes Mittelfeldpressing zurückbegeben, spielt der SCP wann immer möglich ein aggressives Angriffspressing.

Ziel des Pressings ist den Gegner im Spielaufbau unter ständigen Handlungsdruck zu setzen und den Ball auf die Außenpositionen zu leiten. Abhängig von den numerischen Verhältnissen werden bogenförmige Pressingläufe, bei denen einer der Innenverteidiger in den Deckungsschatten gestellt wird, mit optionsorientiertem Zustellen kombiniert.
Unabhängig von der genauen taktischen Umsetzung gilt ein Grundprinzip, dass durch RB-Trainer Hasenhüttl bekannt wurde: Die Ballgewinne sollen nach Möglichkeit im Sprint erfolgen, um sowohl einen klare Balleroberung, als auch eine unmittelbare Kontermöglichkeit zu gewährleisten. Dies sorgt dafür, dass sich die Paderborner nicht direkt an ihrem Gegenspieler positionieren, sondern ihn aus der Tiefe kommend, mit einem größeren dynamischen Vorteil angreifen.
Wenn diese erste Pressingwelle überspielt werden kann, zeigen sich gerade die Flügelspieler aktiv in der Rückwärtsverteidigung. In dieser wird ein starker Fokus auf die Spielfeldmitte deutlich. Während ein defensiver Mittelfeldspieler auf den Ballführenden herausrückt, positionieren sich die Flügelspieler eng neben ihm, es ergibt sich eine gekippte Raute.
In der Endverteidigung hat der SCP gelegentlich Probleme, sie kann schließlich selten unter Wettkampfbedingungen eingeübt werden. So sind die Abstände zwischen den einzelnen Kettengliedern nicht immer optimal gewählt. Falls ein Außenverteidiger herausrückt, wird die entstehende Lücke hinter ihm eher reaktiv, und somit mit Geschwindigkeitsdefizit, von einem der Sechser zugelaufen.
Aufbauspiel FC Bayern
Als Dominator der Bundesliga definierten sich die Münchner jahrelang über ihr Offensive, Spielaufbau und Positionspiel erreichten unter Pep Guardiola ihren vorläufigen Höhepunkt. Mit der Übergabe des Traineramtes an Carlo Ancelotti schien der Staffelstab etwas verloren gegangen zu sein. Der Italiener legte keinen Fokus auf minutiös geplantes Aufbauspiel, vertraute im Offensivspiel eher auf die individuelle Qualität seiner Spieler.
Nach dessen Entlassung kam mit Jupp Heynckes auch die Spielkultur ein Stück weit zurück. Bayern baut mutiger, flexibler und schlicht effektiver auf, als noch zuvor.
Im Ballbesitz formiert sich Bayern grundsätzlich in einer 2-3-2-3-Staffelung. In dieser positionieren sich die Außenverteidiger ungefähr auf einer Höhe mit dem alleinigen Sechser. In der vordersten Dreierkette bleiben die Flügelstürmer zunächst breit. Die Achter bewegen sich grundsätzlich zwischen diesen beiden Linien, kippen situativ neben den Sechser ab oder bieten Tiefenläufe in die letzte Linie an. Das genaue Bewegungsprofil hängt dabei stark vom eingesetzten Spieler ab. (Vidal sehr weiträumig, James ballnah unterstützend, Tolisso ausweichend)
Aus dieser Struktur ergeben sich verschiedene Angriffsmuster, die darauf abzielen Durchbrüche auf außen zu generieren. Wenn sich der Gegner im Aufbau auf eine Seite locken lässt, wird der ballfern geöffnete Flügelspieler durch einen Diagonalpass der Innenverteidiger gesucht. Gerade Hummels und Boateng brillieren in diesem Belang. Wenn der Gegner weniger Spieler auf einer Seite opfert, werden Spielzüge auch linear an der Linie lang gespielt.
Wenn das Anspiel auf den Flügelspieler gelingt, wird die Situation flexibel weitergespielt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Außenverteidigern. Diese bieten, aus der Tiefe kommend, einen dynamischen Vorteil gegenüber der eher statischen Defensive. Abhängig davon, ob der Ballführende mit seinem Dribbling in die Mitte zieht, oder breit bleibt, hinter- oder vorderlaufen sie.
Mit passendem Timing kann man eine Überzahl gegen den Gegner erzeugen und für Steilpässe hinter die Abwehrkette nutzen. Wenn der Lauf verfolgt wird, können die Münchner Flügelspieler dank ihrer individuellen Qualität das Dribbling gewinnen und eine Flanke anschließen.
Bei Hereingaben wird der Strafraum massiv besetzt. Neben dem Mittelstürmer bewegen sich meist der ballferne Flügelspieler, sowie mindestens ein Achter in den Strafraum. Der Rückraum wird vom ballfern eingerückten Außenverteidiger und dem Sechser gesichert.
Falls diese Kombinationen auf der Außenbahn nicht funktionieren, hat der FCB Schwierigkeiten, zu Torchancen zu kommen. Zwar stellen lange Bälle auf Lewandowski ein probates Mittel dar, aber auch der Weltklassestürmer kann sich nicht (ok, sagen wir selten) alleine gegen den gesamten Abwehrverbund durchsetzen.
Im zentralen Mittelfeld fehlt die Abstimmung. Die Achter involvieren sich unnötig ins Spiel, fallen zurück neben den Sechser. In Situationen, in denen beide Achter zurückgekippt sind, fehlt Bayern die Präsenz im Zwischenlinienraum, der Spielvortrag wird erschwert.
Fazit
Wenn man sich gegen einen Gegner wie Bayern nur am eigenen Strafraum verschanzt, hofft man die Lotterie zu gewinnen. In den allermeisten Spielen reicht dem Rekordmeister ein Moment individueller Brillianz, um ein Tor zu erzielen. Um Einfluss auf das Spiel zu haben, muss man bereit sein, den Spielaufbau unter Druck zu setzen.
Glücklicherweise ist dies eine Paderborner Kernkompetenz. Das ohnehin verbesserungswürdige Aufbauspiel der Bayern wird sich keiner einfachen Aufgabe gegenüber sehen.
Ein größeres Problem wird für den SCP die Verteidigung der Außenbahnen sein. Da man selbst das Spiel dorthin leitet, wo der Gegner es haben möchte, könnte es zu einem offenen Duell kommen. In diesem hat der FCB natürlich Vorteile, nicht nur korrespondieren seine taktischen Stärken mit Paderborner Schwächen, auch haben die Paderborner Außenverteidiger (insbesondere LV Herzenbruch) ihre größten Schwierigkeiten im Verteidigen schneller und wendiger Flügelspieler.
Vielleicht gedenkt Heynckes seinem Vorgänger, indem er Tolisso und Müller auf dem Flügel aufstellt… Wahrscheinlicher aber ist eine totale Annihilation durch Coman und Robben.
Das Barcelona Ostwestfalens
Paderborn strahlt in der aktuellen Saison nicht nur im Pressing einen Dominanzanspruch aus. Nicht ohne Grund stellt der SCP die beste Offensive der dritten Liga, der Spielaufbau ist ebenso auf Topniveau, wie das gruppentaktische Ausspielen von Angriffen.
Paderborn möchte das Spiel kontrollieren. Im Aufbau schieben die Innenverteidiger breit, die Außenverteidiger hoch. Torwart Zingerle bewegt sich situativ als zusätzlicher Feldspieler auf einer Höhe mit den Verteidigern. Vor der Abwehr verbleibtein alleiniger Sechser. Sein Nebenmann führt eine weiträumigere Rolle aus, findet sich sowohl im Sechser-, als auch im offensiven Halbraum oder sogar überlaufend auf der Außenbahn.
Der Gegner soll durch die breite Positionierung horizontal gestreckt werden, und somit Passwege öffnen, die auf verschiedentliche Weise genutzt werden können:
Bemerkenswert ist, wie flexibel und pragmatisch der SCP den Spielaufbau angeht. Gegen jeden Gegner werden im Rahmen der immergültigen Prinzipien individuelle Lösungen gefunden. Der Übergang ins Angriffsdrittel ist nur noch selten ein Problem.

Sobald der Ball in gefährlichere Zonen gespielt werden konnte, werden Tiefenläufe hinter die Abwehr fokussiert. Diese dienen zum einen, um unmittelbare Torgefahr zu erzeugen, zum anderen können Räume freigezogen werden, die von einem nachstoßenden Spieler genutzt werden.
Paderborn hat für diese Art von Angriffen einen ausgezeichneten Kader: die Offensivspieler agieren sehr tororientiert, haben eine gute Beschleunigung und passables Timing. Gleichzeitig sind sie dazu in der Lage, nach Anspiel kleinräumig aufzudrehen und ihre Mitspieler it Steilpässen zu finden


Gerade im Vergleich zum FC Bayern ist ein weiterer Aspekt interessant. Im Spielvortrag über die Außen hat der SCP Paarbewegungen entwickelt, die dem Duo Alaba/Ribery frappierend ähneln.
Dennoch: Paderborn hat taktische und strategische Schwächen im Offensivspiel. Oft werden die Staffelungen zu flach, wenn sich der Achter unpassend positioniert. Wenn sich die Paderborner Offensivspieler auf einer Linie bewegen, ist die Anschlussaktion sehr ausrechenbar, Verlagerungen können kaum gespielt, der Ball nicht gesichert werden.
Defensive Bayern: flexibles Pressing
Der FCB hat im präferierten hohen Mittelfeldpressing kein klar definiertes System. Zwar stellt eine 4-1-4-1 Staffelung immer die Ausgangslage da, die genauen Bewegungen sind aber sehr flexibel und situationsbedingt.

Der zentrale Stürmer schneidet grundsätzlich den Passweg zwischen den gegnerischen Innenverteidigern ab. Falls der Gegner ist der ersten Linie mit drei Spielern aufbaut, unterstützt einer der Flügelspieler oder Achter. Der Deckungsschatten wird im bogenförmigen Anlaufen intensiv genutzt, ballnahe Optionen mannorientiert zugestellt.
Gleichzeitig bleibt die Abwehrkette im Vertrauen auf ihre individuelle Überlegenheit weiträumig, die Außenverteidiger können jederzeit durchpressen.
In Umschaltmomenten wird klar erkenntlich, dass die Deckung der ballnahen Optionen unabhängig von konkretem Personal umgesetzt werden soll. So sieht man die Außenverteidiger an der Eckfahne gegenpressen, Robben sichert für Kimmich ab.
Die kollektive Wahrnehmung gefährlicher Optionen ist herausragend. Nur in den seltensten Fällen kann der Gegner vertikale Anspielstationen finden, um das Spiel nach vorne zu tragen.
Risikoreich gestaltet sich hingegen die Absicherung. In Situationen, in denen beide Achter nach vorne pressen, ist das Mittelfeld entblößt. Anspiele in die freien Zonen müssen nicht flach erfolgen, auch hohe Bälle lassen sich ohne Druck verarbeiten.
In ähnlicher Weise kann auch die sehr breite Abwehrkette zum Problem werden. Wenn ein langer Ball behauptet werden kann, sind die Lücken aufreizend groß, die Chance für schnelle Abschlüsse somit allgegenwärtig.
Fazit
Paderborner Ballbesitz könnte sich als interessanteste, weil unerwartetste Phase des Spiels herausstellen. Wenn der SCP die positive Entwicklung im eigenen Offensivspiel fortsetzt, wird es durchaus möglich sein, Schnellangriffe auszuspielen. Gerade der Einsatz von vertikalen Achtern wie Vidal und Tolisso, sowie ein Fehlen von Martinez könnten Paderborn helfen.
Ob das zu Chancen oder Toren reicht, wird davon abhängen, ob Paderborn sich gezielte Überzahlen gegen die Endverteidigung schafft. Ein gewonnenes 1v1 Dribbling gegen Boateng ist nur schwer vorstellbar.
Konter
Das Umschaltmoment ist eine ständige Konstante im deutschen Fußball… und der große Feind von dominanten Teams. Die Fokussierung, die fast alle Teams auf Pressing und schnelles offensives Umschalten zeigen, ist einer der Gründe dafür, dass sich Ballbesitzfußball in der Bundesliga nur schwerlich etablieren lässt.
Jeder Fehler wird bestraft, Überlegenheit endet oft im Punktverlust. Nicht ohne Grund befinden wir uns in der ersten Saison, in der das Team mit weniger Ballbesitz eine bessere Siegquote hat.
Beide Teams begegnen Kontern im alltäglichen Ligabetrieb, und beide sichern sie unterschiedlich ab.
Paderborn balanciert das aggressive Angriffsspiel oftmals durch Zurückbleiben des ballfernen Außenverteidigers sowie des Sechsers. Bayern schafft eine starke Struktur um die Ballungszonen herum (siehe Flanken), durch die zweite Bälle einfacher gewonnen werden können.
Auch das Gegenpressing beider Teams wird unterschiedlich angegangen: Paderborn verengt kollektiv die ballnahen Räume, behält seine Struktur dabei im Wesentlichen bei. Der FCB agiert im Gegenpressing individueller, die Deckung der gefährlichsten Optionen wird vom nächsten Spieler vorgenommen, die restlichen Spieler passen sich dem an.
Der FC Bayern gelangt gegen passivere Gegner nur recht selten in aussichtsreiche Kontersituationen, spielt diese alledings mit viel individueller Klasse und Geschwindigkeit über die Flügel aus.
Paderborn hingegen hatte gerade zu beginn der Saison noch viele Kontermöglichkeiten. Zum Einen wird man nicht als so unschlagbar angenommen, wie der FCB, zum Anderen sind Drittligateams einfach schlechter in der Absicherung als Bundesligisten.
Der SCP verfolgt dabei eine klare Strategie. Der Ballführende Spieler soll immer der tiefste Offensivspieler sein, sodass man vor ihm Optionen für Tiefenläufe anbieten kann. Diese werden immer auf beiden Seiten geschaffen, wenn beispielsweise ein Flügelspieler in die Mitte zieht, geht der Stürmer nach außen.
Prognose
Der FC Bayern München wird erneut ins Halbfinale des DFB-Pokals einziehen. Allerdings ist der SC Paderborn ist in diesem Jahr mehr als ein gewöhnlicher Drittligist, der nur mit Kampf und Mauerei einen glücklichen Coup feiern durfte.
Der offensive und selbstbewusste Fußball, den die Mannschaft zeigt, macht Hoffnung, dass der Klassenunterschied in Vergessenheit geraten könnte und wir wahrlich eines der besten Spiele des Jahres erleben dürfen… Zumindest für ein paar Minuten.
Als zufällig auf diese Seite gestoßener Bayernfan: Respekt! Die Ausführungen über Paderborn hochinteressant und Bayern besser analysiert als viele eigene Fanseiten.
LikeGefällt 1 Person