Am 29. Spieltag der Saison traf der SC Paderborn 07 auswärts auf die zuletzt aufstrebende Rostocker Kogge. Dass dieses Spiel richtungsweisend werden würde, war bereits im Voraus deutlich. Nach 5 Spielen ohne Sieg hätte der SCP im Falle einer Niederlage endgültig den Blick nach unten richten müssten, während Hansa die gute Chance auf den Aufstieg bewahren könnte.
Zur Halbzeit schien dieses Szenario in greifbarer Nähe: Paderborn kontrollierte den Ball, nicht aber Rostocks Konter. Nach zwei Gegentoren und noch weiteren Chancen für das Heimteam war dieses Ergebnis keineswegs unverdient, in Anbetracht der durchaus vorhandenen Paderborner Chancen aber etwas glücklich.
In der zweiten Halbzeit änderte das Spiel sich nicht fundamental, dafür kippte das Glück deutlich zu Gunsten der Gäste. Während Hansa mehrere Konter freistehend vergab, machte der SCP in Person von Ritter und Michel zwei Treffer nach einem individuellen Geistesblitz. Um das Narrativ abzurunden, erzielte Kapitän Strohdiek in der Nachspielzeit das Kopfballtor zum 2:3.
Über Halbzeiten
Die Halbzeit stellt als einzige wirkliche Pause im sonst fließenden Fußball eine Zäsur da. Die Bedeutung dieser kann gewaltig sein, wie zum Beispiel im letzten Revierderby gesehen, wird im Allgemeinen aber eher (und teils sehr deutlich) überschätzt. An gleicher Stelle machte ich mich bereits über Narrative verschiedener Halbzeiten lustig.
Auch in dieser Partie könnte man der Halbzeitpause einen großen Wert zuweisen, dieser würde der Realität aber schlichtweg nicht gerecht. Ja, es gab einige Umstellungen in der Pause (unter anderem die Einwechslung von Jimmy), diese sorgten allerdings nicht für tektonische Verschiebungen in der Statik des Spiels.
Paderborn hatte weiterhin öfter den Ball, kam weiterhin zu Chancen, Hansa verteidigte weiterhin gut und blieb im Konter gefährlich.
Mannschaftsaufstellungen
Hansa formierte sich in einer 4-3-3-Formation, welche im Mittelfeldpressing zu einem 4-1-4-1 wurde, bei dem Henning zurückgezogener agierte. Pavel Dotchev legte vor dem Spiel ein Hauptaugenmerk auf seine Sturmreihe, forderte vor allem, dass sich Breier und der neu in die Mannschaft gekommene Väyrynen weniger Sorgen im Torabschluss machen sollen – wie sich zeigte mit Erfolg.
Beim SCP, der genauso wie im letzten Spiel in einer 4-1-2-3-Formation agierte, gab es drei Wechsel. In der Innenverteidigung kehrte Strohdiek nach Gelbsperre (und Warnung von Baumgart) in die Startelf zurück, während Klement und Jimmy von Wassey und Zolinski ersetzt wurden.
Paderborner Pressing
Seit der Amtsübernahme durch Pavel Dotchev zeigt sich Rostock als eine der spielstärkeren Mannschaften der dritten Liga. Aus einer stabilen und sicheren Zirkulation in den letzten beiden Reihen sollen Lücken geöffnet und für Anspiele auf die individuell starke Offensivreihe genutzt werden.

Dabei bildeten sie in einigen Spielen der Saison wahnsinnig weit aufgefächerte Staffelungen, welche sich fast vom eigenen bis zum gegnerischen Strafraum erstrecken. In einer solchen Struktur wird man, gerade von einem passiven Gegner, natürlich kaum unter Druck gesetzt, kann gleichzeitig aber auch nur wenig Torgefahr erzeugen.
Gegen Paderborn agierte man aus verschiedenen Gründen näher am gegnerischen Pressing, oder, besser gesagt: das gegnerische Pressing agierte näher am eigenen Spielaufbau. Dieser wurde aus einer relativ flachen Viererkette gestaltet, in der die Außenverteidiger sich nicht ganz auf eine Höhe mit dem alleinigen Sechser begaben.
Paderborn presste mit seiner Sturmreihe immer auf die nächsten drei Kettenglieder, während Ritter im Pressing etwas höher agierte als Wassey und den Sechserraum verstellte.
Der Ball wurde dennoch geduldig in den ersten beiden Linien zirkuliert, Vertikalpässe wurden nur dann gespielt, wenn sich Benymina auf der Außenbahn zurückfallen ließ oder einer der beiden Paderborner Außenverteidiger sich im Pressing zu weit nach vorne begab. In solchen Momenten bewegte sich der ballferne Rostocker Achter auf die Außenbahn, um innen Platz für Benyamina zu öffnen.
Aus genau so einer Situation erzielte man auch das 2:0. Benyamina ließ sich auf der linken Seite weit fallen, konnte sich im Dribbling von Boeder lösen und unbedrängt auf die Paderborner Abwehrkette zulaufen. In dieser traf Schonlau die Fehlentscheidung, auf Benyamina herauszupressen, während Boeder noch nicht in die Abwehr zurückgekehrt war und der durchgelaufene Holthaus somit auf der linken Seite offen anspielbar war. Dieser konnte in den Strafraum eindringen und den Ball zu Breier herüberlegen.
Defensives Abschaltmoment
Allgemein war diese Überaggressivität im Vorwärtspressing der Innenverteidigung, vor allem in Verbindung mit einer schweren Lethargie im Umschaltverhalten der Mitspieler, eine erhebliche Schwäche des SCP. Hansa hatte mehrere Chancen, nachdem der Ball gegen den Paderborner Spielaufbau gewonnen wurde.
Da die beiden Außenverteidiger breit standen und relativ langsam den Weg zurück in die defensive Ordnung suchten, waren die Schnittstellen zwischen ihnen und den Innenverteidigern sehr lange sehr offen.
Ein Paradebeispiel für diese Problematik besteht im Führungstreffer der Kogge, bei dem nicht nur die Außenverteidiger das Umschaltmoment verschlafen, sondern auch beide Innenverteidigung unabgesichert pressen.






Ein Hauch von Positionsspiel
Es mag oft sehr kritisch wirken, was ich zum Paderborner Angriffs- und Positionsspiel schreibe. Diese Einschätzung ist nicht falsch, tatsächlich liegt weiterhin viel Potenzial brach, welches mit kleineren Anpassungen abgerufen werden könnte. Nichtsdestotrotz kann man erkennen, dass von Spiel zu Spiel Arbeit geleistet wird, um Verbesserungen zu schaffen.
Eine solche Verbesserung war im Spiel gegen Rostock sehr gut erkenntlich. Rostock agierte nur phasenweise im Angriffspressing, stellte in diesem auch nur die drei zentralen Spieler zu, während die Außenverteidiger offen blieben und vom jeweiligen gegnerischen Außenverteidiger angelaufen werden sollten.

Über weite Phasen des Spiels agierte man in einem Mittelfeldpressing, welches aus einer 4-1-4-1- Grundordung angegangen wurde, die sich oftmals 4-4-2 artig umformte. Gegen dieses besetzte Paderborn geschickt die theoretischen Freiräume, nämlich den Zwischenlinienraum in Breite der Halbspur und den Rücken des Stürmers.
Auch die anderen Positionierungen waren rational gewählt. Die Außenstürmer bewegten sich an der letzten Linie etwas breiter als die gegnerischen Außenverteidiger, während Paderborns AVs sich sehr breit, aber in ähnlicher Höhe des gegnerischen Mittelfelds befanden. Sie konnten so die Aufmerksamkeit dieser auf sich ziehen und die äußeren Schnittstellen im gegnerischen Mittelfeld weiter öffnen.
Überhaupt wurden Anspiele durch eben diese Lücke im gegnerischen Mittelfeld gesucht. Ritter und vor allem Wassey bewegten sich zwar viel und tauschten häufig die Seite, positionierten sich aber nahezu ausschließlich in Relation zu ebendiesen Schnittstellen.

Bei der üblichen Einleitung der Paderborner Angriffe durch Andribbeln der Innenverteidiger gab es zwei verschiedene Defensivschemata. In einem dieser (vor allem auf der rechten Defensivseite) wurde Staffelung weitestgehend beibehalten und kollektiv zur Seite geschoben. Die angepeilte Schnittstelle wurde nicht wirklich verschlossen, aber nach außen verschoben, sodass der Paderborner Achter den Ball nah an der Außenlinie erhielt.
Die Flügelstürmer verhielten sich rein im Bezug auf positionelle Balance richtig und bewegten sich in solchen Situationen nach innen in den Halbraum, ermöglichtem so aber dem Rostocker Außenverteidiger, herauszupressen.

Dieses Verhalten ließe sich durch einen Fokus auf diagonale Pässe hinter den Innenverteidiger kontern, allerdings ist Tietz als Stürmer zu wenig mobil für solche Anspiele. Bälle in den Fuß, wie er sie präferiert, waren aufgrund des mitschiebenden Sechsers nicht möglich.
Das andere Pressingschema fand man vor allem auf der linken Rostocker Defensivseite vor. In diesem presste der ballnahe Achter frontal auf den ballführenden Innenverteidiger, während der Sechser seine Position in der Mittelfeldkette übernahm.

Der Paderborner Achter (in diesem Fall Wassey) fand sich damit zwar in einem noch größeren geöffneten Raum wieder, war gleichzeitig aber auch im Deckungsschatten des vorpreschenden Achters und somit nicht anspielbar.
Der SCP löste dieses Problem ganz im Stile einer guten Ballbesitzmannschaft: über den dritten Mann. Da Wassey frei, aber nicht direkt anspielbar ist, muss man einen weiteren Mitspieler einbinden, der den Ball unter Druck weiterleitet. Im Allgemeinen stellen Ablagen vom Stürmer ein häufiges Beispiel für dieses Konzept dar.

Paderborn löste es (auch geschuldet seiner Struktur) anders: Boeder kam aus seiner breiten Position explosiv entgegen und konnte somit sowohl anspielbar werden, als auch einen Passweg zu Wassey erreichen. Dieser konnte den Ball mit recht viel Zeit annehmen und halbrechts nach vorne treiben.
Andernfalls konnte Paderborn gegen dieses Defensivschema über die Innenverteidiger verlagern, sodass der ballferne, meist Strohdiek, am Stürmer vorbei andribbeln konnte.

Das Zulaufen auf die Viererkette im Mittelfeld ermöglichte Strohdiek einige Passoptionen, da kein Gegner sich zwischen ihm und Kette, geschweige denn im Linienzwischenraum (Abwehr/Mittelfeld) befand.
Anscheinend überrascht von der Einfachheit dieser Angriffe vertändelten die Paderborner Spieler die Chancen nach vormals gelungenem Anspiel nachlässig.
Eine Gemeinsamkeit, die die meisten Angriffe im Spiel hatten, war, dass die letztendlich am Flügel ausgespielt wurden. Dort zeigte Paderborn sich ebenfalls stark in der kollektiven Positionierung. Wer auch immer außen rumlief, bildete sinnvolle, gleichseitige Dreiecke, welche das Kombinationsspiel erst ermöglichten. Sogar Wasseys Flügelstürmerphasen wurden durch die eingerückten Positionierungen von Zolinski/Yeboah und Boeder/Herzenbruch balanciert.
Dennoch war nicht alles gold, was glänzt. Das stark verbesserte Mittelfeld zeigte weiterhin Unkonzentriertheiten. Ritter verhielt sich teilweise zu sehr wie ein Mittelstürmer. Wassey sicherte in einigen Szenen nicht ab, wenn Krauße vorrückte, was Steffen Baumgart auf die Palme brachte, sodass dieser seinen Unmut lautsstark kundtat (guckt euch mal die letzten 10 Minuten der ersten Hälfte an).
Etwas schwerwiegender war die Unruhe der beiden Flügelstürmer, die oft unpassend entgegenkamen oder in die Mitte zogen, damit aber nur der Positionsstruktur und dem eigenen Angriffsspiel schadeten. Diesem Aspekt wurde durch die Einwechslung Jimmys entgegengewirkt, der den Ball prompt auf der Außenbahn erhielt, um den Anschlusstreffer vorzubereiten.
Callosotomie
Zuletzt liegt mir noch ein Punkt auf dem Herzen. Wenn man sich meine Grafiken isoliert anschaut, könnte man das Gefühl bekommen, dass ich zu faul sei, mich mit der ballfernen Seite, mit Verlagerungen und horizontalen Pässen, zu beschäftigen.

Die Wahrheit ist schlichtweg, dass es solche im Paderborner Spiel nicht gibt. Sobald der Ball die Zirkulation in der Innenverteidigung verlässt, agiert man bis zum Abschluss oder Abbruch des Angriffs in einer Hälfte des Spielfelds.
Bei Mannschaften, die stark auf Schnellangriffe und Konter fokussiert sind, ist dies kein größeres Problem, auch in weiten Teilen der Hinrunde fiel es mir kaum auf. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass es von Spiel zu Spiel zu Spiel gravierender und gravierender wird.
Die beiden Angriffshälften agieren, ohne miteinander zu kommunizieren. Es erfolgen kein Blickkontakt, kein Anbieten und keine Pässe. Paderborn repräsentiert das fußballerische Analogon zur Callosotomie, eines medizinischen Verfahrens, bei der zur Behandlung von Epilepsie-Patienten die Verbindung zwischen den Gehirnhälften gekappt wird.
Und so wie dieses Verfahren hat auch Paderborns Angriffsspiel unerwünschte Nebenwirkungen. Durchgehende Spielkontrolle ist nicht möglich. Anstatt den Gegner immer wieder zum Verschieben zu zwingen, und anstatt flexibel ballferne Räume nutzen zu können, läuft man sich in den selbst geschaffenen Engen fest. Der Ausweg über einen Rückpass erlaubt es dem Gegner, sich zu reorganisieren und nimmt dem SCP seinen Fortschritt.
Fazit
Paderborn lieferte gegen einen starken Gegner Antworten. Die Antwort auf den 0:2-Rückstand, die Antwort auf die Ergebniskrise und die Antwort auf Michels Torflaute.
Dennoch bleiben Fragezeichen. In der defensiven Umschaltbewegung genauso wie im Angriffsspiel. Diese Fragen zu beantworten, wird die Herausforderung der kommenden, finalen Wochen der Saison sein.
3 Kommentare zu „Split Game“