Ein Raum, sie zu knechten

16. Spieltag. Zu Gast beim augestorbenen Bundesligadino musste Paderborn feststellen, dass die Uhren in Hamburg anders laufen. Nicht nur spielt Hamburg mittlerweile ansehnlichen Fußball, auch die Logik der obligatorischen Trainerentlassungen ist eine Neue. Anstatt erfolglose Übungsleiter mit anderen noch erfolgloseren auszutauschen, wurde Titz, der schon im Abstiegskampf der letzten Bundesligasaison ein hochriskantes Positionsspiel etablierte, von Hannes Wolf ersetzt, der seither mit einer Ausnahme jedes Spiel gewinnen konnte.

Auch gegen Paderborn startete Hamburg ausgezeichnet und vollkommen dominant in das Spiel. Erst in der zweiten Hälfte wurde der traditionelle HSV-Stil wiedergefunden und die Spielkontrolle durch scheinbar risikoaverse Entscheidungsfindung abgegeben. Nach einer ziemlich hoffnungslosen ersten Hälfte endete das Spiel in einer Paderborner 6v3 Überzahl am Hamburger Strafraum…

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Mannschaftsaufstellungen

Ein Blick auf Hamburgs Kader liefert eine einfache Antwort, warum Wolf bereits zum Einstand eine solche Erfolgsserie starten konnte. Vor Pollersbeck, dessen nur durchschnittliche Fähigkeiten am Ball in Titz Zeiten überstrapaziert wurden, findet sich mit Van Drongelen und Bates eine junge Innenverteidigung, die nicht nur athletisch und im klassischen isolierten Verteidigen auf höchstem Niveau ist, sondern ihre Fähigkeiten in Ballbesitz im Laufe der Saison deutlich weiterentwickeln konnte.

Grotesker wird die Qualität des Kaders auf der Außenverteidigerposition, wo man mit Santos und Sakai zwei Spieler auf gutem Bundesliganiveau hat, welche nicht defensiv solide, sondern vor allem in Ballbesitz mit vielseitigem Positionsspiel und gut eingebundenen spielmachenden Qualitäten auftrumpfen können. Sechser Mangala verkörpert ebenso Pressingresistenz des höchsten Niveaus, wenngleich sein Timing im Zugriffsverhalten noch eine Basutelle darstellt.

Auf den hohen Achterpositionen finden sich ebenfalls zwei gute Bundesligaspieler. Zum Einen Lewis Holtby, der als weiträumig und flexibel ausweichender Spieler häufig auf der gegenüberliegenden Seite oder in der Sturmspitze zu finden ist, zum Anderen Aaron Hunt, als Verbindungsgeber im Zehnerraum auf noch unfairerem Niveau als Kiels Lee, organisieren das Offensivspiel.

In der Offensivreihe fanden sich unterschiedliche Spielertypen wieder. Jatta ist auf der linken Seite nicht nur physisch überragend, sondern durchaus kreativ und unkoventionell, wenngleich nicht erfolgsstabil in isolierten Dribblings. Auf der rechten Seite findet sich mit Narey ein ehemaliger Paderborner, der sich in der vergangenen Jahren zu einem extrem tororientierten und passend einlaufenden Spieler entwickelt hat. In der Spitze findet sich mit Hwang ein ebenfalls sehr physischer, bei langen Bällen häufig nach außen weichender Zielstürmer mit leichter Fallsucht.

Hamburger SV - SC Paderborn

Paderborn kann demgegenüber nicht mit hohem Bundesliganiveau, sondern vor allem durch eine enorm dynamische Offensive auftrumpfen, in der Gueye und Michel nach dem Sieg in Köln erst zum zweiten Mal gemeinsam auflaufen konnten. Darüber hinaus kam Schwede nach starker Schlussphase im Derby in die Startelf, während die Besetzung des zentralen Mittelfelds mit Klement und Vasiliadis ebenfalls für eine offensive Ausrichtung sprach.

Unfokussierte Fluidität

Die dominantesten Phasen des Spiels fanden sich im Hamburger Ballbesitz der ersten Halbzeit. Dieser entwickelte sich im Rahmen einiger Leitplanken aus einem klaren Positionsspiel in den ersten Linien zu höherer, von den Spielerprofilen abhängigen Fluidität in höheren Phasen.

In der tiefsten Phase des Ballbesitzes, welcher gegen ein Paderborner 4-4-2-Mittelfeldpressing mit situativem Herausrücken eines zentralen Spieler angelegt wurde, formierte man sich in einer 2-3-5-Struktur, bei welcher Bates und Van Drongelen in die Halbräume auffächerten und bei Anspielen auf Pollersbeck breitere Positionen auf Breite der Strafraumkante, stets in beträchtlichem Abstand von den Paderborner Stürmern einnahmen.

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Vor ihnen bewegten sich Santos und Sakai invers, ebenfalls in die Halbräume, wobei sie zwischen einer dynamischeren, den Paderborner Flügelspieler nach innen ziehenden, und einer eher statischen, lediglich in der Höhe wechselnden Positionierung in der äußeren Schnittstelle des Mittelfeldbandes variierten.

Sakai bewegte sich dabei grundsätzlich häufiger tief und neben die Innenverteidiger. Aus dieser Position konnte er zwar seine spielmachenden Fähigkeiten verstärkt einbringen, diente gleichzeitig aber als Pressingopfer. Unter Abdeckung der äußeren Bahn von Jimmy angelaufen, konnte er häufig nur zu Bates zurückspielen, der gegen die kollektive Vorschiebedynamik der ersten Pressinglinie ebenfalls auf einen Rückpass zurückgriff. Pollersbeck verhielt sich seinen Fähigkeiten entsprechend erwartungsgemäß und spielte lang.

Während die Falle im Fallen in der zweiten Hälfte prominent war, konnte sich Hamburg in der ersten Hälfte häufig auf die konstant breite linke Seite lösen, wo Jatta isolierte Dribblings ansetzten, vor allem aber das Paderborner Pressing auf eine Seite kollabieren lassen konnte. Durch ein weites Herüberweichen der Doppelacht konnte der Paderborner Zugriff erschwert, durch Santos scharfe Vollspannverlagerungen situativ auf die tiefe ballferne Seite aufgelöst werden.

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Überragend wurde Hamburg dann, wenn aus Situationen am linken Flügel ein in den Zehnerraum gespielt werden konnten. Hunt oder Holtby wurden dort von Vasiliadis angelaufen und konnten zwei mal analog über Weiterleitungen mit der Hacke beziehungsweise Ferse in den ballfernen Halbraum bringen, wo Mangala vorstieß.

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Hamburg kann nach Ballgewinn am Flügel ins Zentrum auflösen. Hunt spielt hier mit der Hacke einen No-Look-Pass auf den diagonal vorstoßenden Mangala. Narey steht breit neben Collins und kann nach kurzen Andribbeln in Dynamik freisgespielt zum erfolgreichen Abschluss kommen.
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Santos kann einen frühen Diagonalball auf Holtby spielen, der ihn mit der Hacke auf Hwang weiterleitet. Dieser nimmt zu sehr ins Zentrum an und erreicht Narey außerhalb dessen Dynamik.

In Anbetracht dessen, dass der ballferne Halbraum, beziehungsweise der Raum  Raum neben dem eingerückten ballfernen Sechser der wohl wertvollste im modernen Fußball und dessen 4-4-2-Raumdeckungsschemen ist, ist es kaum überraschend, dass nahezu jedes Hamburg Anspiel dahin unmittelbar für Torgefahr sorgte.

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Ballferne Mitte. Diesmal in links.

Problematisch gestaltete sich auf Hamburger Seite lediglich, dass man durch das Ausweichen von Holtby und Hunt auf die Ballseite häufig keine Besetzung dieses Raumes hatte, beziehungsweise dieser nur zurückfallend von Hwang gefüllt werden konnte. (siehe Bild zu Santos Verlagerung)

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Hamburg überlädt den linken Flügel, der rechte Halbraum wird geöffnet, letztendlich aber nicht bespielt.

Zudem war die Orientierung bei Verlagerungen in tieferen Zonen stärker auf die Außenbahn ausgerichtet, sodass Optionen im Halbraum übersehen wurden. An dieser Stelle soll nicht der Eindruck ensttehen, dass die Nichtbesetzung des ballfernen Halbraums eine besondere Schwäche Hamburgs sei.

Ganz im Gegenteil ist der HSV eine der wenigen Mannschaften in der Liga, die diesen Raum wirklich bewusst und nicht nur zufällig, beispielweise nach inversen Unterzahldribblings nach Ballgewinn bespielt. Was mich stört ist vielmehr, dass dieses Potential nicht stärker ausgenutzt wurde.

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Stattdessen gab es einige weitere Mittel zu sehen, in denen Hamburg zwar eine interessante, aber kaum durchschlagskräfige Anpassung der Besetzung vornahm. Ein solches Beispiel sind weiträumige Rotationen und komplementäre Positionen am rechten Flügel. Vorgegeben von Narey und Holtby (ja, er war manchmal nutzloserweise rechts), letzterer spielte teils breit am rechten Flügel, in den linken Außenverteidigerraum herauskippend oder in der Spitze, variierten die Außenverteidiger ihre Höhe und Breite. Einrücken von Holtby und Narey führte zu breiten Positionen Sakais.  Halblinkes Herauskippen des Ex-Schalkers zum Vorschieben Santos‘ in den hohen linken Halbraum.

Wann immer all dieses Positionsspiel zunichte gemacht wurde, also quasi die gesamte zweite Halbzeit durch risikoaverses, hohes und weites Passspiel der Innenverteidiger und Pollersbecks wurden die ausweichenden Bewegungen Hwangs an der letzten Linie gesucht, aber letztendlich wenig erfolgsstabil gefunden.

Geisterräume

Hamburgs Aufgabe der Spielkontrolle erlaubte dem SCP längere Ballbesitzphasen. In diesen agierte Paderborn im Wesentlichen in einer 2-4-4-Struktur, wobei Vasiliadis und Klement ihre Positionen im Rücken der ersten Hamburger Linie variierten. Hamburg konterte mit einer gespiegelten 4-4-2-Formation, bei der sich Hunt neben Hwang in der ersten Reihe wiederfand.

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Paderborn hatte groteske Probleme mit dieser allzu bekannten Defensivanlage. Die klaren Zuordnungen Hamburgs wurden in Antizipation von Pässen verengt, wobei die Abdeckung des Zentrums im Anlaufen immer von höchster Bedeutung war. Anstelle aus der Innenverteidigung Pässe gegen die Dynamik des Anlaufens auch ins Zentrum zu suchen, spielte man vor allem linear am Flügel. Dort erhielt ein AV den Ball, um in der Folge den offensichtlichen Pass nach vorne, präferiert diagonal auf einen ausweichenden Stürmer zu suchen und in der Folge einen inversen gegendynamischen Lauf zum Doppelpass anzufügen.

Hamburg verengte das Spiel allerdings schnell und war den Paderbornern unter Klements Ausnahme im individuellen Verhalten im engen Raum überlegen. Unabhängig oder besser gesagt gerade wegen dieser individuellen Klasse hätte Paderborn sich das Spiel deutlich einfacher machen können. Die Flügelräume wurden extrem besetzt, was Hamburg ein entspanntes Durchsichern erlaubte. Die Offensiven versuchten dort, die äußere Schnittstelle der Mittelfeldkette zu bespielen, überluden diese aber zu extrem, um gute Anschlussoptionen zu haben.

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Hamburg kann in dieser Sitaution gar nicht nicht verengen. Vier Paderborner in einem Radius von 5 Metern.

Situativ gelang es nach frühem Pass durch die Außenverteidiger zwar, Spielzüge mit Dynamik nach innen zu tragen, vermehrt aber blieb ein Klatschpass der Stürmer ins Mittelfeld die beste, wenngleich nicht immer ausgenutzte Option. Das Paderborner Verhalten im Ballbesitz erinnert teils eklatant an die vergangene Saison, wo man zwar ebenso vielseitige und dynamische Spielzüge an der Außenbahn hatte, Verlagerungen allerdings komplett ignorierte.

In dieser Partie fand sich eine solche Ausrichtung vielseitig wieder. Zum einen wurde das Andribbeln der Innenverteidiger nicht (z.B. über einen gegendynamischen Doppelpass) abgebrochen, auch wenn man in eine berechenbare Dynamik gedrängt wurde.

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Schonlau setzt zumindest zur Gegendynamik zum Doppelpass an

Zum anderen wurde der horizontale Pass von der Außenverteidigung ins Zentrum oftmals ignoriert. Zugegebenermaßen ist ein solcher eine gern genutzte Pressingfalle. Aber wer, wenn nicht Klement, wäre dafür gut, eine solche fachmännisch zu entschärfen?

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Solche oder ähnliche Situationen, in denen Holtby sich bereits auf außen orientiert und bewegt, könnten zum Pass ins Zentrum genutzt werden. Oder aber zum Ballverlust.

Zuletzt hatte Paderborn über weite Strecken der Partie eine eklatante Leere im ballfernen Halbraum. Wenn beide Stürmer ballnah ausweichen, kann dieser auch kaum konstant besetzt werden (außer vielleicht über Hochschieben des linken AV und Einrücken des Flügels).

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Es ist schade, dass das spielerische Potential des Zentrums damit so sehr verschwendet wird. In der 44. Minute findet sich ein perfektes Beispiel für die Leichtigkeit, in der Klement und Vasiliadis das Pressing aushebeln und einen Angriff kreieren, nur um ihn am Flügel zusammenbrechen zu sehen.

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Während Angriffe durchs Zentrum in der ersten Halbzeit vor allem durch Philipp Klements Dribblings, verbunden mit etwaigen Doppelpässen mit den Stürmern, begangen wurden, schuf erst die Einwechslung von Zolinski und dessen Zurückfallen die Möglichkeit zum kontinuierlichen Ballbesitzspiel.

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Ballferne Mitte die Erste
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Ballferne Mitte die Zweite.

Abermals, gegen Hamburgs 4-3-2-1 Abwehrpressing, in dem Holtby auf die Sechs wich, während Hunt und Mangala stärker hervorschoben, waren die ballfernen Halbräume offen. Durch Zolinski konnten sie erstmals in der Partie bespielt werden.

Die letzte Szene des Spiels schließt die inhaltliche Klammer dieses Artikels. Ein Angriff über den Flügel und die Besetzung der ballfernen Mitte sorgen für die größte Paderborner Chance.

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Fazit

Der ballferne Halbraum gibt, der ballferne Halbraum nimmt, er ist allwissend, allgütig und allmächtig.

Es gibt nur wenige Spiele, die so sehr von einem einzigen taktischen Element dominiert werden wie dieses. Nahezu jede Chance wird vom Flügel in die ballferne Mitte oder den ballfernen Halbraum gespielt. Verdienterweise gewinnt die Mannschaft, die diesen Raum fokussierter nutzt, wenngleich sie das Spiel nach der Halbzeit weitestgehend einstellte.

Paderborns Schwierigkeiten sind vielseitig. Doch wie es so oft mit komplizierten analytischen Problemen ist, kann man einfacher eine numerische Lösung finden. Eine Umstellung der Formation auf ein 4-3-3, eine stärkere Besetzung des EINEN RAUMS, sowohl in Offensive als auch Defensive, kann Wunder wirken.

 

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