Das Hinspiel zwischen Holstein Kiel und dem SC Paderborn, das 4:4, das das am meisten analysierte Spiel dieser Zweitligasaison sein dürfte, stellte eine Seite der Kieler Medaille dar. Der riskante Aufbau zeigte einen hohen Ertrag, führte zu unzähligen guten Chancen, problematischerweise für beide Teams. Paderborn agierte in diesem Hinspiel in einem hohen Angriffspressing, lief den Ballführenden ständig an und gab dadurch den Sechserraum auf, der von den vorschiebenden, rotierenden Kieler Innenverteidigern besetzt und zur flachen Spielfortsetzung genutzt werden konnte.
Im Rückspiel versuchte Kiel nun das gleiche, räumte den Sechserraum und ließ die Innenverteidiger flexibel vorschieben, hatte damit aber keinen Erfolg. Paderborn lief nicht durchgehend aggressiv an, sondern stellte aus 4-2-4-artigen Staffelungen Druck über Ruhe. So liefen beide Stürmer nicht ohne Rücksicht auf Verluste, sondern vorsichtig, unter Nutzung ihres Deckungsschattens zur Abdeckung des Sechserraums, an. So konnte Kiel seine Innenverteidiger seltener öffnen, diesen aber vor allem weniger Zeit schaffen. Die Pässe hinter die erste Linie hätten präzise sein müssen, waren dies aber nicht, die Ballannahmen von Schmidt, der häufiger hinter der ersten Paderborner Linie angespielt wurde, hätten schneller sein müssen, waren dies aber nicht. Das flache Aufbauspiel führte nur selten zum Erfolg, sodass man sein Glück über lange Steilpässe Richtung Okugawa und Honsak suchen musste, aber nur vereinzelt fand.
Die Kehrseite des erfolgreichen Wahnsinns ist nicht, wie man glauben könnte, gescheiterter Wahnsinn, Nein, Wahnsinn ist ja, per Definition, ignorant seines Ausgangs, sondern eine Glättung der Wogen, eine Bremsung der Ausschläge, die Tendenz zum Mittelmaß.
Mannschaftsaufstellungen
Auf Kieler Seite gab es im Vergleich zum Remis in Ingolstadt zwei Änderungen. Sicker und Karazor wurden von van den Bergh und Benes ersetzt. Während ersterer Wechsel lediglich eine Formalität darstellte, war das Fehlen Karzors in Anbetracht dessen Entwicklung zum Organisator des Kieler Spiels durchaus unerwartet. Darüber hinaus stellten auch die Einsätze von Reimann und Honsak, Ersterer anstelle des verletzten Krohnholm, Letzterer anstelle von Toptorschütze Serra, Abweichungen von der Stammelf dar. Insgesamt formierte sich mit diesem Personal ein 4-Raute-2, welches in der Offensive häufiger 4-1-1-5 bis 4-0-2-4-artig interpretiert wurde.
Auf Paderborner Seite gab es formativ natürlich keine Wechsel. Wie immer wurde das Spiel aus einer 4-4-2-Grundordnung begangen. Auch personell gab es lediglich einen Tausch, der Tanz auf dem schmalen Grad zwischen Genie und Wahnsinn, der von Tekpetey verkörpert wird, wurde zugunsten Prögers Geradlinigkeit beiseitegelegt.
Aufbauspiel in Ketten
Das Kieler Aufbauspiel erlangt seine Besonderheit durch einige ungewöhnliche Prinzipien. So agiert das Team von Tim Walter mit situativ flachen Außenverteidigern, einer Räumung des Sechserraums, der Zone hinter den gegnerischen Spitzen und einer Mischung aus improvisierten und genau einstudierten Rotationen. Prinzipiell sind es insbesondere die Innenverteidiger, die bei zentralem Ballbesitz durch den Torwart hochschieben, und dann horizontale Bewegungen hinter der ersten Linie anbieten. Dieser grundsätzliche, immer wiederkehrende Spielzug wird durch die stetige Besetzung von verschiedenen vertikalen Linien (die Innenverteidiger bewegen sich auf die Außenbahn, wenn die Außenverteidiger ins Zentrum rotieren) ergänzt. Darüber hinaus erzeugen die klar definierten Abläufe eine Eigendynamik in Form einer Orientierung der Innenverteidiger auf Vorschieben in Freiräume, die sich verschiedensten Phasen wiederfindet. Für einen umfassenden Blick auf diese Verhaltensmuster kann ich auf die Analyse des Hinspiels verweisen.
Um zu verstehen, warum die Kieler Abläufe in dieser Partie nicht den bekannten Effekt haben, möchte ich zunächst einen mustergültigen Ablauf der zentralen Rotationen darstellen. Für diesen positionieren sich die 4 Spieler der Abwehrkette zunächst auf einer Höhe. Nach einem initialen Anspiel auf einen der Außenverteidiger und einem folgenden Rückpass zum Towart schiebt ein Innenverteidiger, im Sinne des Besipiels der rechte Innenverteidiger Schmidt hoch. Bei dieser Bewegung wird er vom gegnerischen Stürmer aufgenommen und verfolgt. Wenn Wahl als verbleibender Innenverteidiger nun den Ball erhält, startet Schmidt seine Bewegung auf die linke Seite. Wenn Wahl den Pass nicht direkt am Stürmer vorbei spielen kann, spielt er zunächst zurück auf den Torwart, bevor er sich auf die rechte Seite bewegt. Durch diese Bewegung wird der weiter vorne verbliebene Stürmer häufig mitgezogen, während des zurückgezogene Stürmer Schmidts Bewegung nicht eng verfolgt. Der Torwart kann ihn somit offen anspielen, Schmidt aufdrehen und durch die äußeren Schnittstellen der Mittelfeldkette den Angriff einleiten.
Tatsächlich funktionieren die Abläufe nur selten so sauber wie oben beschrieben. Häufiger gibt es kleinere Abweichungen, das Vorschieben beider Innenverteidiger, das Einrücken der Außenverteidiger oder auch schlichtweg Dribblings und frühe Laserpässe, die für den Spielfortschritt sorgen. Einzelne Szenen sind im Fußball immer komplex.
Gewissermaßen nutzt das Aufbauspiel aus, dass viele Gegner im hohen Pressing mannorientiert, aber nicht klar manndeckend agieren. Es erfolgen Bewegungen, die verfolgt werden sollen, um in Positionen, in denen man nicht mehr verfolgt wird, anspielbar zu werden. Die Herangehensweise ist als solche perfekt für den deutschen Fußball und insbesondere die zweite Liga geeignet.
Paderborn sollte mit seinem intensiven, oftmals unpräzisen, mannorientiertem Angriffspressing eigentlich der perfektest mögliche Gegner sein, doch sie waren es nicht.


Die Flügelspieler nahmen hohe Positionen ein, in denen sie schnell Druck auf die tiefen Außenverteidiger erzeugen konnten, während die Abdeckung der Diagonale in Anbetracht der geringen Mittelfeldbesetzung unproblematisch war. Die beiden Stürmer agierten eng aneinander, agierten zwar aus einer hohen Ausgangsposition, schoben aber nur vorsichtig auf den Ballführenden. Hoschschiebende Bewegungen wurden kurzzeitig verfolgt, Positionen hinter der Doppelspitze aber nicht aufgenommen. Die Abdeckung des Sechserraums erfolgte über den Deckungsschatten der Stürmer und schnelles Vorschieben der Sechser, allen voran Klement, wenn doch ein Gegner in zumeist geschlossener Position zentral an den Ball kommen konnte.

Das flache Aufbauspiel war weitestgehend lahmgelegt, sodass Alternativen gesucht werden mussten. Diese bestanden insbesondere im Spielen lange Bälle in Richtung der äußeren Schnittstellen der Paderborner Abwehrkette. Okugawa und Honsak positionierten sich recht breit in diesen Lücken, sodass die körperlich überlegenen Paderborner Innenverteidiger unangenehm nach außen laufend auf den Ball attackieren mussten. Insbesondere bei flacheren Bällen konnten die Größenvorteile ausgeglichen werden. Okugawa kreierte in Folge eines langen Balls von Schmidt die beste Chance der ersten Halbzeit.

Bei dieser Möglichkeit kam Hünemeier nicht an den Ball, sodass Okugawa bis zur Grundlinie durchlaufen konnte, bevor eine flache Flanke auf Honsak, der zuvor aus dem Rücken von Dräger kommend an den Fünfmeterraum gestoßen war, anbringen konnte. An dieser Stelle werden weitere Prinzipien der Kieler Spielweise deutlich. Die Schnittstellen der Abwehrkette werden stets besetzt, Flanken von der Grundlinie flach angesetzt und Läufe im Rücken von Gegnern gestartet.

Zeitweise kamen auch die Achter zur Geltung, die sich jeweils breit am Flügel postierten und, gerade bei Verlagerungsangriffen neben der Abwehrkette zur Grundlinie durchstoßen konnten. Der Führungstreffer der Kieler ist ein mustergültiges Beispiel für einen solchen Ablauf.
Insgesamt muss man dennoch auch anmerken, dass Kiel viele unbedrängte Fehler machte. Gerade im tiefen Aufbauspiel gab es hanebüchene Pässe, ein solcher von Schmidt, der aus halblinker Position einen Chipball in die Mitte spielen wollte, aber nur Michel fand. Auch in höheren Phasen scheiterte das Verbindungspiel weniger an schlechten Strukturen (wenngleich die Zentrumspräsenz insgesamt etwas fehlte) sondern an individuellen Fehlern.
Allein auf weiter Flur
Während die Achter in der Offensive einen lediglich peripheren Einfluss hatten, war ihre Positionierung im Umschaltspiel von großer Bedeutung. Bei Paderborner Ballgewinn suchte Meffert aggressiv die Rückeroberung und öffnete dabei den Raum vor der Abwehr. Dieser könnte eigentlich vom ballfernen Achter gefüllt werden – wenn dieser nicht gerade an der Außenlinie war.
Paderborn konnte im Verlauf von Kontern recht leicht vor die Kieler Kette kommen und den ballfernen Halbraum durch ein Vorschieben des Sechsers dynamisch besetzen. Da die Kette dennoch anwesend war, kam Paderborn nicht zu guten Abschlüssen, wohl aber zu einer großen Anzahl an Distanzschüssen.
No Flügel, no problem
Der Paderborner Ballbesitz zeigte sich in den vergangenen Wochen stark auf die Außenbahn fokussiert. Kiel reagierte darauf, indem man Anspiele auf die Innenverteidiger bei Abstößen, oder sonstigen tiefen Aufbauphasen als Signal für ein leitendes Pressing auf die Außenbahn wählte. Aus der 4-Raute-2-Grundordnung attackierte der ballnahe Stürmer dabei auf den Ballführenden, während der ballferne sich zur Abdeckung des Towarts zentral in den Strafraum bewegte. Dahinter schoben der Achter auf den Paderborner Außenverteidiger, Zehner und Sechser raumorientiert ballnah rüber. Im mustergüligen Ablauf hatte der SCP keine Chance, häufig wurde zurück zum Torwart gespielt, der unter Bedrängnis schnell einen langen Ball suchte.

Erfolgreichere Paderborner Aufbauszenen ergaben sich dann, wenn man nach Abstößen zentral spielte. Vor dem Strafraum befanden sich Klement und Vasiliadis nämlich in einer Überzahl gegen Lee. Wenn man es aber schaffte von der Außenverteidigung nach innen zu kommen, war der Zwischenlinienraum extrem offen, da Meffert sich in der seitlichen Zugriffsfindung hoch auf einen Paderborner Sechser orientierte. Der Zwischenlinienraum konnte sowohl für den ersten Vertikalpass, als auch für ein Nachstoßen Vasiliadis genutzt werden.
Überhaupt zeigte sich dieses Nachstoßen Vasiliadis in den Zwischenlinienraum, oftmals diagonal auf die halblinke Seite, immer aber mit passendem Timing, immer aber mit unpassender, weil abschließender, Abschlussaktion, als eines der wichtigsten Merkmale dieser Partie.


Bei Schnellangriffen in höhere Zonen konnte Paderborn wie auch schon bei Kontern die Räume neben Sechser Meffert nutzen, insbesondere Vasiliadis schob immer wieder auf, gravierender aber gestalteten sich die Vorteile, wenn Kiel kollektiv auf eine Seite verschoben hatte. Dann nämlich schob die Raute, insbesondere die Achter extrem kompakt zusammen, sodass sich alle Spieler in Außenbahn und nahem Halbraum befanden. Paderborn konnte diese zusammengeschobene Struktur umspielen, wenn der ballferne Außenverteidiger aus einer eingerückten Position hochschob.
Für meinen Geschmack gab es allerdings zu viele Abschlüsse aus großer Distanz, von außerhalb des Strafraums. Wenn man in die Abschlusssituationen kommt, in denen sich beispielsweise Vasiliadis mehrfach befand, hat man meistens auch genug Zeit, um einen präzisen Steilpass zu spielen.
Schalten und walten
Die eingerückte Position der Außenverteidiger zeigte sich insbesondere im Umschalten als wertvoll. Mehrere Male konnte Collins den Ball auf der linken Seite vor Okugawa gewinnen, wenn Kiel im Konter verlagerte.
Darüber hinaus sorgten die engen Positionen für eine schöne Szene, in der sich nach einem geklärten Ball beide Außenverteidiger zentral vor Zingerle anbieten.
Fazit
Kiel kommt gegen Paderborns vorsichtiges, gut abgestimmtes Pressing nicht ins dominante Aufbauspiel, Paderborn kontert stark und immer wieder, bevor man in der zweiten Halbzeit mehr Kontrolle aus geordneten Spielphasen entwickeln kann.
Der SCP ist mit diesem Sieg Tabellendritter und hat bei verbleibenden Spielen gegen Heidenheim, Bielefeld, Hamburg und Dresden noch alle Chancen, den zweiten Platz aus eigener Kraft zu erreichen. Die Kieler Aufstiegsträume haben derweilen einen heftigen Dämpfer erlitten, wenngleich 5 Punkte Rückstand in dieser zweiten Liga nicht uneinholbar sind.